
Hier im 2. Teil der Entstehungsgeschichte des Reggae geht es um “Metrik und Rhythmik”
Reggae-Titel stehen durchweg im 4/4-Tackt. Die Spannung besteht also nicht in metrischen Wechseln, sondern in der polyrhythmischen Bearbeitung eines eigentlich durchgängigen Grundmusters.Dabei bilden die verschiedenen Instrumente oder Instumentengruppen so was wie “zuwiderlaufende Bezugssysteme”, indem sie unterschiedliche Betonungsschwerpunkte setzen.
Betrachten wir zunächst einmal das Reggae-Schlagzeug- Hier fällt auf, das die Zählzeit 1 keine Betonung hat. Im Unterschied von z.B. Rock-Drums, wo zwar durch starke Snare-Nachschläge auch eine off-beat-Struktur vorhanden ist, gibt die Bass-Drum aber immer als rhythmische Stütze die Hauptzählzeit an. Der typische Reggae-Grundschlag dagegen hat den Betonungsschwerpunkt immer auf der Zählzeit 3, meist ausgeführt von der Bass-Drum und der Snare-Drum.
Das Hi-Hat betont in der Regel die afterbeats auf der Zählzeit 2 und 4 mit, die von Gitarre bzw Keyboard (oder beiden) gespielt werden.
Überhaupt wird die Snare-Drum oft improvisatorisch eingesetzt, wobei der Anschlag teilweise als “rim-shot” erfolgt. Das heisst, Fell und Trommelrand werden gleichzeitig angeschlagen. Die rim-shots wirken meist sehr dezent.
Der derzeit wohl bekannteste Reggae-Schlagzeuger dürfte Sly Dunbar sein. Besonders bei ihm ist erkennbar, daß das Schlagzeug immer mehr der Rock- bzw der Disco-Drum angepasst wird. Der besondere “Pfiff” bei seinem Spiel liegt darin, daß der Snare-Schlag eine Sonderbetonung durch starke Verhallung oder durch Klangmodifikation über einen Schlagzeug-Synthesizer erhält. So kommt es sowohl zu einer starken Zählzeit 1 als auch zu einer besonders markanten Zählzeit 3.

Sly Dunbar
Daneben kündigt der Reggae-Drumer oft durch Läufe über die Toms bzw. die Timbales als Intro das Stück an und bereitet harmonische Wechsel und Übergänge in den Kompositionsteilen vor. Manchmal setzt er auch eine zeitlang aus, um dann meist unvermittelt wieder einzusetzen.
Die durchgängigen afterbeats als typisches und vielleicht ohrenfälliges Stilmittel werden von der Rhythmusgitarre oder einem Keyboard ausgeführt, dazu gibt es dann einfache, meist extrem stakkatierte Nachschläge auch als Achteldoppelschläge oder Punktierungen.
Der Rhythmus des Keyboards wird auf die rechte und die linke Hand verteilt. Oft wird der Baßdreiklang der linken Hand auf der Orgel gespielt, während die rechte Hand ein Klavier oder ein Clavinet bedient und somit der Nachschlag auf der Zählzeit 2 und 4 einen etwas schärferen Charakter erhält.Der Baßdreiklang bildet Achtel-afterbeats, was ähnlich wie beim Ska den Stücken einen bestimmten Swing verleiht. Allerdings sind sie meist nur sehr schwach wahrnehmbar, da sie in tiefen Lagen und eben nicht sehr höhenreich eingespielt werden. So fällt diese Stimme kaum auf, ihr Fehlen würde man aber wohl bemerken.

Jackie Mittoo – Keyboarder
Die Baßgitarre, ein Instument, an dem man sich rhythmisch und harmonisch orientieren kann, verselbständigte sich im Laufe der Zeit und bildet eine Art Kontrapunkt gegenüber den anderen Stimmen. Oft wird die Baßstimme durch eine parallele Gitarrenstimme in der Oktave gedoppelt.
Auch wenn oder vielleicht gerade weil der E-Baß kurze, oft 2- oder 3-taktige Muster spielt, die zwischendurch Pausen lassen, entsteht eine zusätzliche Spannung. Die prägnanten Schläge der Drums verflechten sich mit den sonoren, eigenständigen Phrasen des E-Basses, eine Praxis, die die Soulmusic vormachte und die vom Reggae weiterentwickelt wurde.
Die Nutzung moderner Studiotechnik und die Experimentierfreudigkeit der Reggae-Produzenten führt manchmal zu einer Art Zufallsrhythmik. Insbesondere die Spielereien mit Hall und Echo sind mittlerweile Normalität und durchaus gebrächlich, wobei die Echogeschwindigkeit nicht unbedingt dem Tempo des Stückes entspricht. Es werden so Klangteppiche über die Aufnahmen gelegt, die einer Eigengesetzlichkeit folgen.
Die Technik des Weglassens wird nicht nur bei den Drums angewendet, vielmehr können alle Instrumente einmal kurz wegkippen, was dann aber zu rhythmischen Verunsicherungen beim Hörer führen kann, wenn plötzlich nur noch die afterbeats als rhythmisches Grundelement zu hören sind und die rstlichen Bezugssysteme, deren Zusammenwirken den Reggae eigntlich erst ausmacht, fehlen. Andererseits hat man das fehlende System aber noch im Ohr und erfaßt die isolierten Teile rhythmisch richtig. Hierbei spricht man von einer reizvollen Mischung zwischen erinnertem und momentanem Aufnehmen rhythmischer Vorgänge.
Eine allgemeine Aussage über die rhythmische Struktur des Leadgesanges ist nahezu unmöglich zu machen. Neben genau gesetztem, schlagerähnlichem Strophengesang gibt es auch eine Art Sprechgesang, der einem lässigen Sprachrhythmus folgend praktisch nicht transkribierbar ist. Er wird oft als unabhängig vom rhythmischen Grundstock der Instumente eingesetzt, sozusagen über jenen gelegt, so daß er in sich stimmig, zum Grundrhythmus aber permanent synkopierend wirkt.
Durch die verwandtschaftliche Beziehung zum Rhythm & Blues wäre zu erwarten, daß auch dessen Singwerte übernommen worden sind. Dies ist allerdings nicht der Fall. Notenwerte und punktierte Muster werden in der Regel genau gespielt.
……wird fortgesetzt……
Hier Teil 1 lesen
(Quelle: Lehrbuch von Wolfgang Kunz – Reggae-Kult, Kritik und Kommerz)
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